Die internationale Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) stellt Behörden, Krankenhäuser und medizinisches Fachpersonal vor große Herausforderungen. Aus immer mehr medizinischen Einrichtungen hört man derzeit Klagen über einen Mangel an Schutzausrüstung bei der Behandlung von COVID-19-Patienten. Um diesem Mangel zu begegnen, haben sich auch einige Textilfirmen aus Baden-Württemberg dazu entschlossen, ihre Produktion auf medizinische Produkte umzurüsten und fertigen nun auch Schutzkleidung und Mund-Nasenschutz-Masken. Die Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen hat mit Frau Martina Gerbig vom deutschen ingenieurinnenbund e. V. über das Thema gesprochen.
Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Frau Gerbig, Sie sind als Textilingenieurin in Industrie, Forschung und Lehre wissenschaftlich tätig. Aktuell arbeiten Sie an Forschungsprojekten an der Hochschule Reutlingen und auch als Dozentin an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. Dadurch sind Sie mit vielen deutschen Produktionsunternehmen gut vernetzt und haben Kenntnis über verschiedene Firmen, die in der aktuellen Situation auf die Produktion von Schutzmasken umsatteln.
Wie kann man sich das vorstellen – Firmen, die vorher Kleider und T-Shirts, Sporthosen oder Unterwäsche produzierten, können nun einfach auf Schutzmasken umsteigen?
Martina Gerbig: Um das zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass die Textilindustrie für unglaublich viele Branchen produziert. Die erste Assoziation, die sich Konsumenten aufdrängt, wenn sie an Textilien denken, ist natürlich die der Mode- und Bekleidungsindustrie. Tatsächlich ist das aber nur ein Teil des gesamten Produktionsaufkommens. Darüber hinaus werden viele andere Branchen von Textilproduzenten beliefert, zum Beispiel der komplette Mobilitätssektor – also Autohersteller sowie Bahn-, Bus- und Flugzeugunternehmen.
Man muss sich vorstellen, dass Textilproduzenten genauso aufgebaut sind wie andere Produktionsunternehmen auch. Sie verfügen über einen Maschinenpark, für den es einen Produktionsplan gibt. Je nach Produkt werden die Maschinen eingesetzt. Ob das nun Atemschutzmasken oder Unterwäsche und Hemden sind, ist den Maschinen im Prinzip egal. Es geht darum, dass man das entsprechende Schnittmuster für das Endprodukt hat, dieses über CAD (Computer-Aided Design) in die Maschine einspeist und die richtigen Ausgangsmaterialien bereitstellt. Die Einzelteile werden per Laser oder mit Messern zugeschnitten und dann in der Fertigung in einem vorgegebenen Ablauf produziert. Die Fügemethode ist i.d.R. das Nähen.
L. F. i. M.: Für manche Schutzmasken wird aber mehr benötigt als nur Textilien. Es gibt antivirale Schutzmasken, in die Filter eingesetzt sind, durch die man atmet, um eine Infizierung auszuschließen.
M. G.: Das ist richtig. In medizinischen Einrichtungen werden verschiedene Arten von Schutzmasken benötigt. Es gibt die einfachen Textilmasken, die weder luftdicht sind noch vor Viren und Bakterien schützen – die aber dennoch häufig zum Einsatz kommen. Sie reduzieren die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion, indem sie die Feuchtigkeit beim Sprechen auffangen, und sind zum Beispiel wichtig in der Pflege, um Patienten zu schützen, die ein schwaches Immunsystem haben.
Und dann gibt es Schutzmasken mit der Klassifizierung FFP1 bis FFP3. FFP-Masken schützen vor partikelförmigen, also sehr feinen Schadstoffen und kommen auch in der Industrie häufig zum Einsatz. Diese Masken haben dann außer den textilen Bestandteilen auch Filter, die eingesetzt sind. Diese Filter können die meisten Textilunternehmen nicht einfach selbst herstellen. Dafür kooperieren sie mit anderen Unternehmen, die solche Filter schon herstellen. Um der erhöhten Nachfrage nachzukommen, fahren diese Unternehmen ihre Produktion hoch. Ein Beispiel einer solchen Kooperation ist die gemeinsame Produktion von FFP3-Masken des Stuttgarter Automobilzulieferers Mahle, der Filter herstellt, und des Unterwäscheherstellers Triumph.
L. F. i. M.: Wie kommt so eine Kooperation zustande?
M. G.: Abgesehen von den klassischen Geschäftsbeziehungen gibt es Netzwerke, die sich in Anbetracht der Krise als sehr nützlich erweisen. Das sind im Prinzip digitale Marktplätze, über die sich verschiedene Branchen austauschen und koordinieren können. Es gibt zum Beispiel die Plattform „Place2tex“ der AFBW (Allianz Faserbasierte Werkstoffe Baden-Württemberg e.V.), auf der Unternehmen ihr Angebot und freie Kapazitäten zum Thema Schutzbekleidung koordinieren und so „matchen“ können.
L. F. i. M.: Welche Branchen beteiligen sich an der aktuellen Hilfsproduktion von Schutzkleidung?
M. G.: Einen großen Teil machen tatsächlich die Textilbranche und, bezüglich der Filter, Automobilzulieferer aus – da hier die beiden grundlegenden Produktionsteile der Atemschutzmasken zusammenkommen. Allein im Südwesten Deutschlands lassen sich hier unzählige Unternehmen nennen, wie beispielsweise Comazo und Mey in Albstadt, Hugo Boss in Metzingen, Hauber in Nürtingen, Apelt in Oberkirch oder auch Gütermann Garne in Gutach im Breisgau.
Es gibt aber auch neben diesen beiden Branchen viele Unternehmen, die derzeit beispielsweise mit 3D-Druckern aushelfen. Erst neulich erreichte mich ein Aufruf an Firmen, per 3D-Druck die austauschbaren Aufsätze und Ventile für Beatmungsgeräte zu produzieren. Etliche Unternehmen haben daraufhin ihre 3D-Drucker umgerüstet.
L. F. i. M.: Wie können Sie, von Seiten der Hochschulen, an denen Sie tätig sind, die Firmen unterstützen?
M. G.: Durch die praxisnahe Ausbildung sind die Hochschulen gut mit der Textilindustrie vernetzt. So ist es naheliegend, dass Anfragen an uns herangetragen werden. Was wir bieten können, ist die Unterstützung durch Fach- und Branchenwissen. Auch im Bereich Schnittgestaltung können wir der Industrie zur Seite stehen.
Die Leistung, die derzeit stark bei uns nachgefragt wird, ist unser Netzwerkwissen. Verschiedene Institutionen wie Apotheken, Arztpraxen, aber auch Bauunternehmer, fragen uns, wie sie ihre Mitarbeiter schützen können und wie sie an Schutzmasken kommen. In die Produktion einsteigen können Hochschulen nicht. Wir geben Informationen und Kontakte weiter.
L. F. i. M.: Man hat das Gefühl, dass in Anbetracht der Coronakrise die Industrie enger zusammenrückt und kooperativer, innovativer und strategischer als je zuvor zusammenarbeitet. Wird die Krise Ihrer Meinung nach langfristige Auswirkungen auf die nationale Textilindustrie haben?
M. G.: Ich persönlich habe auch diesen Eindruck, und sehe das in konkreten Beispielen bestätigt. Für die Textilbranche selbst ist das aber nichts Neues – sie war schon immer wahnsinnig innovativ, weil sie sonst nicht überlebensfähig wäre. Für mich gehört die Branche absolut zu den Hidden Champions, gerade hier in Baden-Württemberg, weil Textilien in so unwahrscheinlich vielen Bereichen zum Einsatz kommen und gleichzeitig – leider – so unsichtbar sind. Wer an Textilien denkt, dem fallen meist zuerst Kleidungsstücke ein. Dass die Branche letztlich einen Beitrag zu jedem Fahrzeug leistet – egal ob Bus, Bahn, Flugzeug, Schiff, Auto oder Rakete – wird oft übersehen. Die Textilien für Sitzbezüge von Schienenfahrzeugen, wie z.B. ICE-Zügen, werden beispielsweise von der Firma Mattes & Ammann aus Baden-Württemberg geliefert. Auch die Medizintechnik, Leichtbau-Innovationen und Geotextilien sind auf unsere Branche angewiesen.
Mein persönlicher Wunsch ist, dass dieses Bild der Textilbranche durch deren Einsatz in der Coronakrise zurechtgerückt wird. Textil ist eine technische Sache und ein echtes MINT-Fach. In Baden-Württemberg gibt es sehr moderne Hochschulen, die Studiengänge im Textilwesen anbieten, zum Beispiel in Reutlingen und Albstadt-Sigmaringen, wo ich auch selbst lehre. Unsere Absolventinnen und Absolventen kommen sehr vielseitig zum Einsatz – überall da, wo textiles Know-how gefragt ist.
Als Textilingenieurin ist Martina Gerbig in Industrie, Forschung und Lehre tätig. Aktuell arbeitet sie an der Hochschule Reutlingen an zwei Forschungsprojekten zum Thema Nachhaltigkeit und erfüllt Lehraufträge an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. Sie ist Leiterin der Regionalgruppe Stuttgart des deutschen ingenieurinnenbunds e.V. und setzt sich hier für Frauen in technischen Berufen ein.
Foto: Martina Gerbig