Im Jahr 2020 starben laut Statistischem Bundesamt 239.600 Menschen in Deutschland an Krebs. Damit ist diese Krankheit die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Prof. Dr. Lena Maier-Hein erforscht, wie Künstliche Intelligenz Mediziner:innen helfen kann, die Behandlung betroffener Menschen zu verbessern.
Die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin leitet unter anderem die Abteilung Intelligente Medizinische Systeme am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und ist zudem für das Programm „Data Science and Digital Oncology“ verantwortlich. Anhand dieser Bezeichnungen lässt sich auch für Laien erahnen, worum sich diese Forschung dreht: die Verknüpfung der Medizin mit digitalen Technologien. Sie können bei Diagnosen oder Operationen helfen, Patient:innen noch besser und gezielter zu behandeln.
Im Interview spricht Prof. Dr. Lena Maier-Hein über konkrete Möglichkeiten, diese Verfahren in der Praxis anzuwenden, und gibt einen Einblick in ihre wissenschaftliche Karriere.
„Im Studium war ich oft die einzige Studentin unter dutzenden Studenten“
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Meine Forschung hat zum Ziel, die chirurgische Onkologie der Zukunft zu gestalten. Meine Gruppe benutzt moderne Methoden der Künstlichen Intelligenz, um Abläufe in der Chirurgie – sowohl im OP-Saal als auch außerhalb – zu optimieren und damit die Qualität der Behandlung von Krebspatient:innen zu verbessern. Dazu entwickeln wir sogenannte Intelligente Systeme. Diese Systeme erfassen über verschiedene Sensoren, wie z.B. Kameras, die aktuelle Situation, interpretieren die Daten auf Basis ihres Kontextwissens und leiten eine kontextsensitive Assistenz ab. Diese Assistenz kann dann beispielsweise das Anzeigen relevanter Strukturen mittels erweiterter Realität sein oder ein Vorschlag, ob oder wie ein bestimmter Patient operiert werden sollte.
L. F. i. M.-B.: Können Sie uns ein Beispiel dafür geben, wie Ihre Forschung in der Praxis angewendet werden kann?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Ein wichtiger Bestandteil Intelligenter Systeme ist häufig die Bildgebung. Während eines chirurgischen Eingriffs – zum Beispiel einer Tumor-OP – ist es wichtig, gesundes Gewebe sicher von krankem Gewebe unterscheiden zu können und Auskunft über bestimmte Gewebefunktionen, zum Beispiel die Sauerstoffversorgung, zu erhalten. Dazu brauchen wir ein Verfahren, das strahlungsfrei ist und die Bilder in Echtzeit liefert. Die spektrale Bildgebung ist ein neuer, vielversprechender Ansatz. Dieses Bildgebungsverfahren nutzt Licht unterschiedlicher Wellenlängen, um klinisch relevante Informationen über menschliches Gewebe zu ermitteln. Aufgrund seiner Komplexität bei der Berechnung der Bildinformationen wird dieser Ansatz derzeit in der Klinik noch nicht eingesetzt. Meine Forschung ist dabei, diese Verfahren mithilfe moderner Künstlicher Intelligenz für die Klinik einsatzbereit zu machen. Würde das gelingen, könnte man in OPs zukünftig eine Kamera auf eine Oberfläche halten und sofort detaillierte Informationen zu Zustand und Funktion des Gewebes darunter erhalten.
„Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann an Krebs zu erkranken, liegt im Mittel bei etwa 50 Prozent“
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Alleine in meinem Team finden sich ungefähr 30 Mitarbeiter:innen aus den Bereichen Informatik, Physik, Mathematik, Statistik, Medizin und Biologie. Meist ist ein Drittel davon Frauen. Dazu kommt die Expertise der Partner, z.B. aus der Chirurgie oder der Endoskopie. Insgesamt bewegen wir uns also wirklich in einem hoch interdisziplinären Feld.
L. F. i. M.-B.: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag konkret aus? Welche Aufgaben lieben Sie besonders, was macht Ihnen weniger Spaß?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Ich habe vor einiger Zeit die wichtige Entscheidung getroffen, mir einige Stunden am Vormittag freizuhalten, in denen ich alles Nötige erledigen kann: Schreiben, Lesen, Ideen entwickeln, etc. Meine Nachmittage sind bis auf die letzte Minute mit Meetings gefüllt, und selbst im Labor oder im OP stehe ich nur noch äußerst selten. Am liebsten spreche ich mit meinem Team oder mit meinen Kooperationspartnern über die Forschung; neueste Ergebnisse, neue Strategien etc. Die Bürokratie, die immer mehr zunimmt, finde ich unglaublich lästig, insbesondere dann, wenn sie rückwärtsgewandt ist, es also beispielsweise um die Berichterstattung geht.
L. F. i. M.-B.: Haben Sie das Gefühl, dass die Krebsforschung in der Gesellschaft einen besonderen Stellenwert hat? Haben Sie in diesem Zusammenhang schon einmal Druck verspürt, bestimmte Ergebnisse abliefern zu müssen?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann an Krebs zu erkranken, liegt im Mittel bei etwa 50 Prozent. Damit hat jede:r Einzelne in der Gesellschaft ein Eigeninteresse daran, dass wir in der Forschung vorankommen. Also ja, die Krebsforschung hat meines Erachtens nach einen hohen Stellenwert. Damit geht dann natürlich auch etwas Druck einher, aber ich würde das für mich nicht als großes Problem bezeichnen.
„Meine Auslandsaufenthalte waren besondere Highlights“
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Auf dem Gymnasium prophezeite mir mein damaliger Mathelehrer in der achten Klasse, dass ich mal Mathematikprofessorin werden würde. Das fand ich vollkommen abwegig, obwohl ich nun als Informatikprofessorin nicht weit entfernt davon bin, wenn man bedenkt, dass sich der Begriff „Informatik“ aus den zwei Begriffen „Information“ und „Mathematik“ zusammensetzt. Jedenfalls wurde mir in der Schule dann doch schnell klar, dass ich beruflich in einem naturwissenschaftlichen Feld arbeiten möchte. In meinem Informatikstudium habe ich mich auch schon sehr früh für die Spezialisierung Künstliche Intelligenz und den Anwendungsbereich Medizin entschieden. Dass es nun ausgerechnet die chirurgische Datenwissenschaft geworden ist, würde ich eher als Zufall bezeichnen.
L. F. i. M.-B.: Vom Bachelorstudium in Karlsruhe bis zur Leitungsposition am DKFZ: Sie blicken auf eine lange akademische Karriere zurück. Gibt es in Ihrem Werdegang Stellen, die Ihnen besonders positiv in Erinnerung geblieben sind?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Ich denke, meine Auslandsaufenthalte waren besondere Highlights. Erst die Highschool in den USA, später das Studium am Imperial College London und danach mein Postdoc am Hamlyn Centre – ebenfalls in London. Ich habe diese Wechsel immer als sehr erfrischend empfunden. Außerdem hat mich meine Promotion im von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Anmerkung d. Red.) geförderten Graduiertenkolleg Intelligente Chirurgie durch den interdisziplinären Charakter sehr begeistert.
„Sexismus – auch in der Krebsforschung ein Problem“
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Absolut. Im Studium war ich schon oft die einzige Studentin unter dutzenden Studenten, in diversen Tutorien oder anderen Veranstaltungen. Das Ungleichgewicht hat sich dann mit den nächsten sogenannten Karriereschritten leider nicht groß verändert.
L. F. i. M.-B.: Haben Sie sich in Ihrem Berufsalltag als Frau immer gleichbehandelt und ernstgenommen gefühlt?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Leider nicht immer. Ich musste mir schon oft Kommentare über mein Aussehen anhören – das ging bis zur Schätzung meiner BH-Größe durch einen Vorgesetzten oder die Frage nach einem Date von Professoren. Kürzlich habe ich eine Keynote auf einem medizinischen Kongress gehalten, auf dem fast nur Männer waren. Im Anschluss wurde mir mitgeteilt, wie hervorragend der Vortrag war, „besonders für eine Frau“. Allerdings habe ich insgesamt das Gefühl, dass sich die Situation in den letzten paar Jahren sehr verbessert hat.
„Macht das, was Euch begeistert!“
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Ja, das ist eine häufige Frage. Mein Tipp ist: Sucht Euch den richtigen Mann. Im Team ist alles viel einfacher. Was uns besonders geholfen hat, ist ein gutes Netzwerk, das Investieren in Hilfe für arbeitsintensive sonstige Tätigkeiten, die neben der Arbeit anfallen und die Auswahl einer besonders guten Kita mit hohem Betreuungsschlüssel. Außerdem denke ich, dass es auch bei der Kindererziehung mehr auf Qualität als auf Quantität ankommt. Eine gemeinsam verbrachte Stunde kann so viel mehr wert sein als ein ganzer Nachmittag, wenn man sie richtig füllt.
L. F. i. M.-B.: Bestnoten vom Abitur bis zu den Studienabschlüssen, Stipendien, eine gelungene akademische Laufbahn – haben Sie einen Tipp oder eine bestimmte Empfehlung für Mädchen, die genau wie Sie Erfolg in einer naturwissenschaftlichen Karriere haben möchten?
Prof. Dr. Lena Maier-Hein: Macht das, was Euch begeistert! Dabei kommt es wirklich nicht darauf an, wie oft man hinfällt, sondern wie oft man aufsteht. Mir wurde früher gesagt, ich würde Stipendien wie Briefmarken sammeln; was wenige wussten, war, dass ich viele Male bei Geldgebern abgelehnt worden war, bevor es endlich geklappt hat. Ich habe aber nicht aufgegeben, weil ich unbedingt ein Jahr im Ausland studieren wollte. Also: Nicht so leicht unterkriegen lassen!
Lena Maier-Hein ist Medizininformatikwissenschaftlerin und Hochschullehrerin. Sie ist eine der Direktor:innen am National Center for Tumor Diseases (NCT) des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und leitet dort auch eine Abteilung. Sie studierte zunächst Computer Science am KIT in Karlsruhe und machte ihr internationales Diplom am Imperial College in London. Von 2005 bis 2008 promovierte sie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg in Intelligenter Chirurgie in der Abteilung Medizinische und Biologische Informatik. Im Jahr 2013 erhielt sie an der Universität Heidelberg ihre Habilitation.
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