Matilda – oder wenn aus Herausforderungen Chancen werden

Am 11. Februar, dem Internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft, feiern wir die Errungenschaften von Forscherinnen weltweit.

Junge Frau in Schutzkleidung in einem Labor.

Es ist entscheidend, nicht nur auf die heutige Rolle von Frauen und Mädchen im MINT-Bereich zu schauen, sondern auch einen Blick in die Vergangenheit zu werfen: So spielte Rosalind Franklin eine Schlüsselrolle bei der Entdeckung der DNS-Struktur, Lise Meitner legte die theoretische Grundlage für die Kernspaltung, und Jocelyn Bell Burnell entdeckte die ersten Pulsare.
Doch viele dieser Errungenschaften wurden über Jahrzehnte hinweg übersehen, übergangen oder sogar Männern zugeschrieben – ein Phänomen, das als Matilda-Effekt bekannt ist.

Otto Hahn war es, der im Jahr 1945 stolz den Nobelpreis für die Entdeckung der Kernspaltung entgegennahm. Und wo war Lise Meitner? Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre die Nachfrage gewesen: „Lise … wer?“ Lise Meitner wurde als zweite Frau überhaupt mit Physik im Hauptfach an der Universität Wien promoviert und forschte lange Zeit gemeinsam mit Otto Hahn an der Radioaktivität. Sie war es, der die alles entscheidende Deutung der Experimente in Bezug auf die Kernspaltung gelang und die die Spaltung von Atomkernen wissenschaftlich erklärte. Den Nobelpreis erhielt 1945 jedoch Otto Hahn allein. Unglaubliche 49 Jahre wurde Lise Meitner für den Nobelpreis nominiert. 49-mal ging sie leer aus.

Diese Forschungen von Frauen waren bahnbrechend

Altes Bild einer Frau in einem Labor, im Hintergrund ein Mann.

Lise Meitner und Otto Hahn
© mauritius images / CBW / Alamy / Alamy Stock Photos

Lise Meitner ist bei Weitem nicht die einzige brillante Wissenschaftlerin, die übergangen und deren Leistung ignoriert wurde – mehr noch, bei der die Anerkennung für eine gemeinsame Forschung allein an den Mann ging. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist Rosalind Franklin. Die britische Biochemikerin und Kristallografin entdeckte 1953 die Doppelhelixstruktur der DNS und lieferte somit den Grundstein für die Bestimmung der DNS-Struktur. Die beiden Wissenschaftler Francis Crick und James Watson arbeiteten mit Franklins Erkenntnissen – und wurden 1962 für ihre Arbeit mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Rosalind Franklin, deren Berechnungen und Messungen maßgeblich für Cricks‘ und Watsons Forschung waren, wurde weder von den Nobelpreisträgern noch sonst irgendwo erwähnt.
Auch die Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell wurde übergangen. Sie arbeitete in den 1960er-Jahren an der Universität von Cambridge als Doktorandin mit dem Astronomen Antony Hewish. 1967 entdeckte sie Pulsare, pulsierende Radioquellen eines Neutronensterns. Diese Entdeckung war der Nobel-Kommission 1974 den Physik-Nobelpreis wert. Erhalten hat ihn nicht Jocelyn Bell Burnell, sondern – ihr Doktorvater.

Von Matthäus zu Matilda

All diese Beispiele sind keine Einzelfälle. Und 1993 gab die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter der historischen und systematischen Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft einen Namen: Matilda-Effekt.
Der Name geht auf Matilda Joslyn Gage (1826-1898) zurück, eine amerikanische Feministin, Suffragette, Religions- und Bibelkritikerin sowie Wissenssoziologin. 1870 schrieb sie in ihrem Text „Woman as Inventor“ erstmals darüber, dass es zahlreiche Frauen in der Wissenschaft und Technik gäbe, die jedoch ignoriert und deren Leistungen absichtlich verschwiegen würden.
Margaret W. Rossiter nahm diese Erkenntnis auf und beschäftigte sich mit ihr. Bei ihrer Forschung stieß die Wissenschaftshistorikerin auf den Begriff „Matthäus-Effekt“ in der Wissenschaft. Er war 1968 vom US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (und seiner Frau Harriet Zuckerman) formuliert worden und verweist auf das Matthäus-Evangelium, in dem es heißt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ (Die Bibel 1999: 13:129)

Keine Einzelfälle, sondern System

Robert K. Merton beschreibt mit dem Matthäus-Effekt eine Art „Ausstrahlungseffekt“, den bekannte Wissenschaftler erfahren, wenn ihnen Arbeiten zugeschrieben werden, für die sie nicht, oder zumindest nicht alleine, verantwortlich sind.
Margaret W. Rossiter konzentrierte sich bei ihren Recherchen jedoch nicht auf das Phänomen der übermäßigen Anerkennung, sondern auf das Gegenteil – auf diejenigen, die eben keine Anerkennung erfahren, obwohl Wissenschaft meist eine Gemeinschaftsleistung ist. Rossiter fiel auf, dass dies vor allem auf eine Gruppe zutraf: Frauen. Rossiter verdeutlichte damit gut 100 Jahre nach Matilda Joslyn Gage wieder einmal, dass die wissenschaftlichen Leistungen und mitunter bahnbrechenden Erkenntnisse von Frauen unterschlagen und nicht adäquat gewürdigt wurden – und dass dies keine Zufälle waren, sondern systematische Benachteiligung.

Matilda – immer noch in oder endlich out?

Ist Matilda inzwischen kein Thema mehr? Jein.
Zwischen 82,9 Prozent und 97,8 Prozent der zwischen 1901 und 2023 vergebenen Preise gingen an männliche Forscher. Zudem werden Wissenschaftlerinnen auch immer noch deutlich seltener als ihre männlichen Kollegen zitiert. Erfreulicherweise wächst der Frauenanteil in der Forschung, 2021 waren 30% der Wissenschaftler weiblich. Darüber hinaus sind sie in der Wissenschaft nach wie vor in der deutlichen Unterzahl. So betrug 2021 der Frauenanteil in der Forschung in Deutschland knapp 30 Prozent.
Und immerhin: Bei den Nobelpreisen werden die Leistungen von Wissenschaftlerinnen immer mehr gesehen und gewürdigt – auch wenn es noch mehr sein darf. 2020 wurden Jennifer A. Doudna und Emmanuelle Charpentier mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet, 2023 erhielt die Biochemikerin Katalin Karikó die Ehrung im Bereich Physiologie oder Medizin.
Verschiedene Aktionstage wie der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft, aber auch Initiativen wie „Frauen in MINT-Berufen“ zeigen immer mehr Wirkung: Es wird aufmerksam und bewusst gemacht, dass Mädchen und Frauen sich sehr wohl in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik entfalten können, für jede Begabung und jedes Interesse etwas dabei ist und dass sie in den Berufen mehr als willkommen sind.

  • Infokasten

2015 wurde der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft von den Vereinten Nationen (UN) ins Leben gerufen, um auf die wichtige Rolle von Frauen in der Wissenschaft aufmerksam zu machen und für mehr Chancengleichheit in Forschung und Technik zu kämpfen. Obwohl Frauen bahnbrechende Entdeckungen gemacht haben und machen, sind sie in vielen wissenschaftlichen Disziplinen immer noch unterrepräsentiert. Der Aktionstag soll dieses Ungleichgewicht sichtbar machen und junge Mädchen ermutigen, eine Karriere in den Naturwissenschaften, der Technik oder der Medizin einzuschlagen. Weltweit finden an diesem Tag Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, Vorträge, Workshops und Kampagnen statt, um weibliche Vorbilder in der Wissenschaft zu würdigen und zukünftige Generationen zu inspirieren.

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