Immer gut versichert: von der Wirtschaftsmathematik zur Finanz- und Risikoanalyse

Dass Mathematik Spaß machen kann, davon musste Jasmin Berdel niemand überzeugen. Mit großem Eifer stürzte sie sich während ihrer Schulzeit auf alle mathematischen Denksportaufgaben und liebte es, kreative Lösungswege zu finden.

MINT-Berufe Frauen Portrait

Jasmin Berdel

Versicherungsmathematische Funktion

Frau mit weißer Bluse in einem Bürogebäude.

Ihr beruflicher Werdegang war folglich keine große Überraschung. Dass sie sich für ein Studium der Wirtschaftsmathematik entschied, hat sie einer Orchesterkollegin zu verdanken, die ihr den Tipp gegeben hatte. Nach dem Studium folgte die Promotion und eine Aktuarausbildung an der Deutschen Aktuar-Akademie – dieser Fachbereich hatte Jasmin Berdel bereits im Laufe ihres Studiums fasziniert: Einfach erklärt geht es darum, mit mathematischen Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik finanzielle Unsicherheiten, unter anderem in den Bereichen Versicherung und Kapitalanlage, zu bewerten.

Nach ihrer Promotion landet sie eher zufällig im Risikomanagement der VPV Lebensversicherungs-AG. Ursprünglich hatte sie sich auf eine andere Stelle innerhalb des Unternehmens beworben. Heute besetzt sie als Versicherungsmathematische Funktion eine der Schlüsselfunktionen seit dem Inkrafttreten der europäischen Solvency-II-Richtlinie.

Weibliche Vorbilder für ihre MINT-Karriere brauchte Jasmin Berdel nicht. Getreu dem Motto „Just do it” hat sie sich nie von der Meinung und den Zweifeln anderer beeinflussen lassen. Hochschwanger und später mit einem nur wenige Wochen alten Baby Seminare besuchen und in Rekordzeit Prüfungen absolvieren? Geht! Aber gibt es auch Dinge, die nicht so einfach gehen? Welchen Hürden und Herausforderungen ist sie begegnet? Wir haben mit Jasmin Berdel über diese und weitere Themen gesprochen.

Ein Händchen für Mathematik und eine Leidenschaft für Musik

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Hattest Du schon immer ein Interesse am MINT-Bereich?

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Kreative Lösungswege zu finden, die schnell ein Ergebnis liefern, hat mir schon immer Spaß gemacht. Ich hatte bereits als Kind ein Händchen für Mathematik, sodass es später außer Frage stand, dieses Fach auch als Leistungskurs zu wählen.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Warum hast Du Dich für ein Studium der Wirtschaftsmathematik entschieden?

Jasmin Berdel: Eine Orchesterkollegin, mit der ich meine Freude an Mathematik sowie an Französisch und Englisch teilte, hatte mir den Studiengang empfohlen. Das Studium der Wirtschaftsmathematik klang für mich wie ein „perfect match“, da es meine beiden größten Interessen miteinander verband: Ich hatte die Aussicht, einen Beruf in der Wirtschaft mit praktizierter Mathematik zu ergreifen und dabei Fremdsprachen anzuwenden.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Wäre für Dich auch ein anderer Studiengang oder eine andere Branche infrage gekommen?

Jasmin Berdel: Tatsächlich hat mich die französische Sprache schon immer begeistert. Dabei war ich nicht nur von der Sprache an sich fasziniert, sondern auch von der französischen Philosophie. Letztes Ende stellte sich mir aber die Frage, ob ich mit diesem Studienschwerpunkt später auch meinen Lebensunterhalt finanzieren könnte. Rückblickend hätte ich äußerst gerne zumindest ein oder zwei Semester an einer französischen Universität absolviert.
Etwas in Richtung Musik zu studieren kam mir auch in den Sinn. Denn Musik hat für mich seit jeher einen sehr großen Stellenwert. Ich habe mich jedoch ganz bewusst dafür entschieden, dass es ein Hobby bleiben soll. Eines, das ich bis heute mit viel Leidenschaft ausübe.
Während meines Studiums waren die Weichen dann früh gestellt – nachdem ich Kurse in den Bereichen Aktuarwissenschaften und Financial Engineering belegt hatte und großen Gefallen an finanzmathematischen Methoden und den Vorgehensweisen und Anwendungen gefunden hatte, war für mich klar, dass ich sowohl meine Diplomarbeit als auch meine Doktorarbeit in diesem Bereich schreiben würde. Im Anschluss an die Promotion kam für mich eigentlich auch nur eine Arbeitsstelle mit aktuariellem Hintergrund in einem Versicherungsunternehmen in Frage.

Vom Risikomanagement bis hin zum Familienmanagement

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Wie ging es nach Deinem Studium weiter und was waren die wichtigsten Stationen in Deinem beruflichen Werdegang?

Jasmin Berdel: Nachdem ich die Dissertation inhaltlich abgeschlossen und in einem ersten Entwurf niedergeschrieben hatte, ging ich auf Jobsuche. Die VPV hatte zu diesem Zeitpunkt eine Stelle in der „Produktentwicklung Leben“ ausgeschrieben. Ich hatte mich zwar im Rahmen meines Studiums und der Promotion hauptsächlich mit Methoden und Modellen für Schaden-Unfall-Versicherungen beschäftigt, aber ich fand die Ausschreibung interessant, da sie vielseitig erschien und sowohl ein aktuarielles Wissen als auch ein besonderes Maß an Kreativität erforderte.
Das Bewerbungsgespräch verlief vielversprechend. Der Experte der Personalabteilung war jedoch der Meinung, dass ich auf die andere freie Stelle im Risikomanagement sowohl fachlich als auch persönlich noch besser passen würde und hat mich ermuntert, mich ebenfalls auf diese Position zu bewerben. So kam es, dass ich schlussendlich – und rückblickend betrachtet glücklicherweise – im Risikomanagement landete. Dort startete ich zunächst mit Aufgaben rund ums Asset-Liability-Management: einem Managementansatz, bei dem – ganz vereinfacht gesprochen – die Risiken aus dem leistungswirtschaftlichen und dem finanzwirtschaftlichen Bereich unternehmenszielbezogen aufeinander abgestimmt werden.

Nach der Elternzeit und Geburt unserer ältesten Tochter veränderte sich der Schwerpunkt meiner Tätigkeiten auf das Berichtswesen zu Solvency II, einem Aufsichtssystem der Europäischen Union, das über die Solvabilität bzw. Eigenmittelausstattung und Finanzlage der Versicherungsunternehmen informiert – mit dem Ziel, Vermögen und Leistungsansprüche der Versicherten zu schützen.
Während meiner zweiten Elternzeit bekam ich meine aktuelle Position als Versicherungsmathematische Funktion angeboten. Das habe ich als große Wertschätzung empfunden, da ich zu diesem Zeitpunkt schon über ein halbes Jahr in Elternzeit war und bereits feststand, dass ich nur in Teilzeit wieder anfangen würde. Da ich die Jahre zuvor viele Berührungspunkte mit den Aufgaben dieser Position hatte, habe ich diese Chance sehr gerne ergriffen.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Was war die wohl herausforderndste Situation in Deinem bisherigen Berufsleben?

Jasmin Berdel: Es sind weniger einzelne Situationen, die ich als Herausforderung sehe, sondern vielmehr der ständige Balanceakt, Familie und Beruf in Einklang zu halten. Dabei hadere ich immer wieder mit meinen eigenen Ansprüchen, denen ich vor allem der Zeit geschuldet nicht ohne weiteres gerecht werden kann. Es ist also auch immer ein mentaler Spagat zwischen den Bedürfnissen der Kinder bzw. der Familie und den Anforderungen des Jobs.

Das Geschlecht ist nicht entscheidend

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Welche Hürden musstest bzw. musst Du als Frau sonst noch überwinden, die einem Mann eher erspart bleiben?

Jasmin Berdel: Meines Erachtens wurden mir niemals Hürden gestellt, nur weil ich eine Frau bin. Selbstverständlich war und ist es eine Herausforderung, die richtige Balance zwischen Familie und Beruf zu finden. Gerade der Wiedereinstieg nach den Schwangerschaften respektive Elternzeit hat mir immer viel abverlangt. Nach wie vor mache ich zeitliche Abstriche bei der Arbeit und verzichte auf eine volle Stelle, um mehr Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Vor diesen Herausforderungen stehen jedoch auch männliche Kollegen; und der private Hintergrund und die Entscheidungen in der Familie sind hier maßgeblich – nicht das Geschlecht.

Lachende Frau mit Blick auf älteren Mann.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Diesen Balanceakt schafft man eigentlich nur mit entsprechender Unterstützung …

Jasmin Berdel: Ja, das macht natürlich vieles leichter. Ich bin sehr dankbar, dass mir mein Ehemann, meine Schwester, meine Eltern, meine Kinder – sprich meine ganze Familie – immer voll und ganz zur Seite stehen. Ebenso habe ich große Unterstützung von meinem Arbeitgeber erfahren. Meine Kolleginnen und Kollegen unterstützen mich ebenfalls, vor allem dadurch, dass sie Verständnis für zeitliche Einschränkungen haben.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Gib uns doch einen kurzen Einblick in Deine Tätigkeiten. Wie läuft Dein Arbeitsalltag normalerweise ab?

Jasmin Berdel: Meine Aufgabenfelder reichen von der Konzeption geeigneter Modelle, über die Bestimmung angemessener Annahmen über Validierung und Aufbereitung der Ergebnisse bis hin zur Berichterstattung rund um Solvency II, dem europäischen Aufsichtsregime für Versicherungsunternehmen. Stakeholder sind zum einen die Geschäftsführung, die ihre Entscheidungen auf unsere Auswertungen stützt. Zum anderen fertigen wir zahlreiche Ausarbeitungen verpflichtend für die Finanzaufsicht BaFin an.

Die Weiterentwicklung unserer Modelle findet in regem Austausch zwischen verschiedenen Abteilungen statt. Hierzu arbeite ich sowohl mit Kolleginnen und Kollegen aus meinem eigenen Bereich zusammen, aber auch bereichsübergreifend. Wir wägen ab, welche Entwicklungen welche Vorteile bringen würden und wie Umsetzungen in unseren IT-Systemen und Softwareprogrammen technisch aussehen könnten. Unser Ziel ist, dass die Modelle noch besser der Realität entsprechen und die Ergebnisse somit noch aussagekräftiger zur Unternehmenssteuerung verwendet werden können.
Wir besprechen To-do-Listen und Zeitpläne, um die festen Termine einzuhalten, die zumeist durch Vorstandssitzungen oder Terminfristen der BaFin gegeben sind. Alle Ergebnisse werden stets genau beleuchtet und mit bisherigen Resultaten verglichen, seien es Vorjahresergebnisse, das vorherige Quartal oder gesonderte Sensitivitäten. Es wird validiert, ob die Ergebnisse den Erwartungen entsprechen und wo es Auffälligkeiten gibt.
Die finalen Ergebnisse werten wir anschließend aus, um zu sehen, inwieweit sie Einfluss auf die Unternehmensführung haben könnten. Auf dieser Basis erarbeiten wir Schlussfolgerungen und fundierte Vorschläge für die Geschäftsführung, die in Berichten und Präsentationen festgehalten werden.

Alte Denkmuster durchbrechen, Flexibilität einfordern

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Hast Du ein spezielles Motto, das Dir hilft, als Frau in einem MINT-Beruf durch den (Berufs-)Alltag zu kommen?

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Meine Devise lautet: „Just do it.“ Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob ich etwas machen kann oder darf, weil ich eine Frau bin – ich tu‘s einfach. Solche Fragen sind in meinem Kopf und meinem Umfeld also gar nicht präsent. Und ich hoffe sehr, dass meine Töchter später mit genauso viel Selbstvertrauen durchs Leben gehen. Folglich bedeutet das auch: Wenn eine Frau Interesse an der MINT-Branche hat, sollte sie ihren Weg gehen und sich nicht beirren lassen.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Was muss sich Deiner Meinung nach ändern, damit sich mehr junge Frauen für eine Karriere im MINT-Bereich entscheiden?

Jasmin Berdel: Teilzeit und Homeoffice sind meiner Meinung nach wesentliche Elemente für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dieser Aspekt ist gerade für junge Frauen mit Familie oder Familienwunsch ganz essenziell. Wenn diese Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsort in MINT-Berufen noch weiter ausgebaut wird, werden meines Erachtens noch mehr junge Frauen diesen Karriereweg einschlagen. Ein weiterer Aspekt, der Frauen eventuell davon abhält, könnte sein, dass sie Hindernisse sehen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. So könnten sie beispielsweise befürchten, sich in einer männerdominierten Branche nicht durchzusetzen oder die nötige Akzeptanz zu erhalten. Diese Erfahrungen habe ich nie gemacht und ich kann Frauen deshalb nur dazu ermutigen, alte Denkmuster abzulegen und ihren Weg zu gehen.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Was macht Dir an Deinem Beruf besonders viel Spaß?

Jasmin Berdel: An meinem Beruf schätze ich die Zusammenarbeit mit netten Kolleginnen und Kollegen und generell den Teamspirit. Ich genieße aber auch das eigenverantwortliche Handeln und das Vertrauen, das mir meine Vorgesetzten entgegenbringen. Logisches Denken und das Tüfteln nach Lösungen sind nicht nur Soft Skills, die für meinem Job unerlässlich sind, es sind auch Eigenschaften, die mich nach wie vor Tag für Tag motivieren.

Schluss mit den Zweifeln und Vorurteilen!

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Gibt es eine Anekdote aus Deiner beruflichen Laufbahn, die Du gerne erzählen würdest?

Jasmin Berdel: Ich hatte äußerst zügig die Aktuarausbildung durchgezogen, ein Zweitstudium von der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), das ein zuvor erfolgreich absolviertes Studium im Bereich Mathematik voraussetzt. Die letzten Prüfungen in Köln absolvierte ich hochschwanger. Zum Seminar für die Spezialwissensprüfung in Mannheim reiste ich jeden Tag mit wechselnder familiärer Begleitung an, um unsere erst zwölf Wochen alte Tochter in den Pausen stillen zu können. Auch bei der abschließenden Prüfung reiste das Baby mit.
Ich war äußerst stolz, trotz dieser besonderen Umstände mein Zweitstudium innerhalb kürzester Zeit gemeistert zu haben – auch wenn aus meinem beruflichen Umfeld einige Personen Zweifel und Kritik an meinen Entscheidungen geäußert hatten. Natürlich waren diese Erfolge hauptsächlich durch den starken familiären Rückhalt möglich. Aber auch, weil ich den Zweifeln keinen Raum gelassen und mein Ziel konsequent verfolgt habe.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Was hilft Dir, um nach einem anstrengenden Tag abzuschalten? Deine Liebe zur Musik hattest Du ja bereits erwähnt …

Jasmin Berdel: Das Musikmachen gehört einfach zu mir und ist ein wertvoller Ausgleich zum trubeligen Familien- und Berufsleben. Ich spiele Waldhorn im örtlichen Musikverein, singe in einer Band und in einem modernen Chor.

Um körperlich fit zu bleiben, habe ich außerdem vor einem guten Jahr angefangen, regelmäßig laufen zu gehen – am liebsten durch den Wald. Früher habe ich mit großem Engagement Volleyball gespielt. Aber dieser Teamsport lässt sich heute leider nicht mehr mit meinem vollen Kalender in Einklang bringen.

Landesinitiative Frauen in MINT-Berufen: Welcher Themenaspekt im Zusammenhang mit „Frauen in MINT-Berufen“ liegt Dir noch am Herzen, der bisher nicht angesprochen wurde?

Jasmin Berdel: Ich selbst sehe in der heutigen Zeit kaum noch externe Hindernisse für Frauen, in MINT-Berufen erfolgreich zu sein. Zumindest keine, die nicht auch für andere Branchen gelten, wenn man Teilzeit und Homeoffice als wichtiges Kriterium heranzieht. Ich denke, dass der weiterhin geringere Anteil von Frauen in MINT-Berufen darin begründet ist, dass es immer noch Frauen gibt, die sich aufgrund vermeintlicher Hindernisse oder Vorurteile scheuen, den Weg in diese Branche einzuschlagen. Bei solchen teils noch hartnäckigen Vorurteilen können Kampagnen wie die Landesinitiative „Frauen in MINT-Berufen“ Abhilfe schaffen. Ich freue mich, ein kleiner Teil davon zu sein.

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