Prof. Dr. Anette Weisbecker vom Fraunhofer IAO über das Zusammenspiel von Mensch, Technik, Digitalisierung und Organisation
Wie schaffen kleine und mittlere Unternehmen den Sprung in die digitale Welt? Das Fraunhofer IAO und seine Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen dazu und bringen ihre Erkenntnisse ergebnisorientiert in die Anwendung. Sie unterstützen damit Unternehmen und Institutionen in ihrer individuellen Situation: Wo steckt noch digitales Potenzial und wie können neue Technologien gewinnbringend eingesetzt werden? Während der Corona-Pandemie wurde umso deutlicher, dass die Forschung auf diese technischen Fortschritte angewiesen ist.
Die zunehmende Digitalisierung verändert die Art, wie wir leben und arbeiten.
Anette Weisbecker: Die zunehmende Digitalisierung und neue Technologien wie z. B. künstliche Intelligenz oder perspektivisch Quantencomputing, verändern Wirtschaft und Gesellschaft. Damit gehen tiefgreifende Auswirkungen auf die Art, wie wir kommunizieren, leben und arbeiten einher. Die aktuelle pandemiebedingte Situation hat gezeigt, wie schnell Homeoffice und virtuelle Zusammenarbeit umgesetzt und Prozesse digitalisiert werden können. Unsere Arbeitsweisen haben sich dadurch verändert. Flexibilisierung, Digitalisierung und Automatisierung sowie die durch die Pandemie induzierte Beschleunigung führen zu einem „New Normal Work“. Wie genau dies zu gestalten ist, wird die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre sein.
L. F. i. M.-B.: Wie weit weg sind wir aktuell noch vom wünschenswerten Fortschritt in der Digitalisierung? Wie ist das im Vergleich zu anderen Ländern?
Anette Weisbecker: Es gibt Bereiche, in denen Deutschland weltweit Zeichen gesetzt hat. Ein Beispiel hierfür ist der in Deutschland geprägte Begriff Industrie 4.0, wo schon früh die Möglichkeiten des Internet der Dinge und Dienste in industriellen Prozessen umgesetzt wurden. In Baden-Württemberg wurde bereits 2015 auf Initiative des Wirtschaftsministeriums die Allianz Industrie 4.0 ins Leben gerufen. Sie bildet heute ein Netzwerk aus vielen verschiedenen Partner aus Wirtschaft, angewandter Forschung, Verbänden, Kammern und Sozialpartnern. Diese arbeiten daran, Themen wie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, digitaler Zwilling, Cybersicherheit, 5G, neue Geschäftsmodelle, Organisation 4.0 sowie Weiterbildung und Qualifizierung in den Unternehmen umzusetzen.
Trotz vieler Initiativen nimmt Deutschland bei der Digitalisierung in den internationalen Rankings keinen Spitzenplatz ein.
Trotz dieser Beispiele und der Beschleunigung der Digitalisierung durch die derzeitige Pandemie nimmt Deutschland in den internationalen Rankings keinen Spitzenplatz ein. Es gilt somit weiterhin, die Digitalisierung in allen Bereichen mit allen Kräften weiter voranzutreiben.
Quantencomputer werden herkömmliche Computer nicht pauschal ablösen – es gilt herauszufinden, für welche Anwendungen sie besser geeignet sind.
Anette Weisbecker: Quantencomputer basieren auf den Gesetzen der Quantenmechanik und unterscheiden sich grundlegend von herkömmlichen Computern. Diese arbeiten mit Bits. Ein Bit kann nur zwei Zustände annehmen: entweder eins oder null. Quantencomputer hingegen arbeiten mit Quantenbits (sogenannten Qubits). Im Unterschied zu klassischen Bits ist der Zustand eines Qubits nicht entweder null oder eins, sondern einer Mischung (Überlagerung) daraus. Zudem sind die Informationszustände der Qubits miteinander verschränkt und beeinflussen sich gegenseitig. Erst wenn der Zustand eines Qubits auszulesen versucht wird, legt es sich auf einen konkreten Zustand 0 oder 1 fest. Da Qubits mehrere Zustände gleichzeitig annehmen können, lassen sich mit einem Quantencomputer mit wenigen Qubits mehr Rechenoperationen ausführen als mit einem herkömmlichen Rechner mit gleicher Zahl normaler Bits.
Die Rechenleistung eines Quantencomputers steigt mit der Anzahl der Qubits exponentiell. Schon mit relativ wenigen Qubits sind Quantencomputer theoretisch in der Lage, komplexe Problemstellungen schneller als herkömmliche Computer zu lösen. Da Quantencomputer nach ganz anderen Gesetzen funktionieren als herkömmliche Computer, ist auch deren Programmierung völlig neu zu entwickeln. Quantencomputer eignen sich somit für Aufgaben, bei denen zahlreiche Bedingungen in einem komplexen wechselseitigen Zusammenspiel berechnet werden müssen. Beispiele hierfür sind die schnelle Suche in großen Datenmengen, die Optimierung großer logistischer Systeme, wie Verkehrsnetze oder Stundenpläne, neue Ansätze für die Entwicklung von Materialen oder Medikamenten, aufwändige Optimierungsprobleme, wie sie u.a. in der Finanzwirtschaft vorkommen, und die Lösung großer linearer Gleichungssysteme.
Neben der Herausforderung, Anwendungen zu entwickeln, die die Eigenschaften eines Quantencomputers ausnutzen können, ist auch die Frage zu beantworten, für welche Anwendungen Quantencomputer besser als herkömmliche Computer geeignet sind.
Was der Mensch dem Computer voraus hat? Kreativität, Entscheidungskompetenz, kommunikative und sozioemotionale Fähigkeiten.
Anette Weisbecker: Trotz aller Automatisierungspotentiale und dem Einsatz neuer Technologien ist der Mensch auch in Zukunft aus der Arbeitswelt nicht wegzudenken. Der Stellenwert der menschlichen Arbeit wird in Zukunft sogar noch steigen. Ganz besonders werden die menschliche Kreativität und Entscheidungskompetenz sowie die kommunikativen und sozioemotionalen Fähigkeiten gefragt sein. Daneben bieten neue Technologien und Lösungsansätze zahlreiche Möglichkeiten, den arbeitenden Menschen zu unterstützen und für ihn deutliche Verbesserungen zu erzielen. Hierzu gehören u.a. Entlastung von Routinetätigkeiten, Entscheidungsunterstützung und Assistenzsysteme. Bei der zunehmenden Zusammenarbeit zwischen Mensch und Technik muss die Aufgabenverteilung so gestaltet werden, dass die Technik an die Vorteile und Potentiale menschlichen Denkens und Handelns anknüpft und die wechselseitige Ergänzung in den Mittelpunkt der Mensch-Technik-Interaktion stellt.
L. F. i. M.-B.: Welche Rolle haben Sie persönlich bei Projekten wie dem Kompetenzzentrum für Quantencomputing?
Anette Weisbecker: Für mich geht es in erster Linie darum, gemeinsam mit den Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft zu erforschen, für welche Anwendungen Quantencomputing genutzt werden kann. Wir wollen die Frage beantworten, welche Aufgaben mit dem Quantencomputer besser als mit klassischen Rechnern gelöst werden können und wofür nach wie vor klassische Rechner besser geeignet sind. Dann geht es darum, die Entwicklung von Anwendungen so zu ermöglichen, dass nicht nur speziell ausgebildete Experten mit dem Quantencomputer arbeiten können, sondern auch Fachexperten befähigt werden, die Technologie zu verstehen und für eigene Anwendungen zu nutzen.
Die Studie „Arbeiten in der Corona-Pandemie – Auf dem Weg zum New Normal“ brachte überraschende Erkenntnisse zur Digitalisierung zutage.
Anette Weisbecker: Zu unseren Kernforschungsgebieten gehören die Fragen, wie digitale Technologien unsere Arbeitswelt verändern und welche Auswirkungen sie auf die Wirtschaft und Gesellschaft haben. Das Thema „New Work“ hat durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie für die Unternehmen und auch in der Öffentlichkeit enorm an Bedeutung gewonnen.
Am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO haben wir gemeinsam mit der Deutsche Gesellschaft für Personalführung e.V. (DGFP) in der Studie „Arbeiten in der Corona-Pandemie – Auf dem Weg zum New Normal“ (http://publica.fraunhofer.de/dokumente/N-593445.html) die Auswirkungen, Chancen und Erfahrungen virtueller Arbeitsformen in der Corona-Pandemie analysiert. An der Befragung nahmen über 500 Unternehmen teil. Im Fokus der Studie standen Fragen nach den Veränderungen der Arbeitsorganisation, der Bewältigung von Kundenkontakten sowie technischen Herausforderungen für Mitarbeitende und Unternehmen. Im Vordergrund stand darüber hinaus die Einschätzung der Unternehmen dazu, wie es im „New Normal“ weitergehen kann und welche technischen, kulturellen sowie führungsseitigen Voraussetzungen hierfür noch geschaffen werden müssen.
Beeindruckend an den Ergebnissen war, wie schnell Unternehmen die Digitalisierung von Arbeit und Kooperation umsetzen konnten. So zeigt die Studie, dass Arbeits- und Kooperationsprozesse insgesamt deutlich stärker virtualisierbar sind als bisher angenommen. Erwartungsgemäß hat die Studie auch klare Nachbesserungspotentiale sichtbar gemacht: bei Führung über Distanz, beim Management von Entgrenzung, aber auch bei technischen Themen wie digitale Signaturen.
„Die rasante Entwicklung der Computer in der 80ern gab den Ausschlag für meine Entscheidung, Informatik zu studieren.“
Anette Weisbecker: Als ich mein Informatikstudium 1980 an der damals Technischen Hochschule Darmstadt aufnahm, begann auch eine rasante Entwicklung der Computer. Die Rechner wurden leistungsfähiger, kleiner und kostengünstiger. Aber es haben sich insbesondere die Anwendungsmöglichkeiten vervielfacht. Das gab den Ausschlag für meine Entscheidung, Informatik zu studieren. Eine neue Technologie kennenzulernen, und zu erforschen, wofür sie genutzt werden kann, war und ist immer noch interessant. Eine Fragestellung, die mich dabei immer interessiert, ist: wie kann der Mensch die Technik auf einfache Art und Weise nutzen, wie sieht eine nutzerzentrierte und aufgabenorientierte Entwicklung und Gestaltung von Anwendungen aus?
Diese Anwendungsorientierung hat mich dann auch zum Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO nach Stuttgart geführt. Im Kern meiner Forschungsarbeiten und Projekte geht es darum, wie der Einsatz neuer IT-Technologien gestaltet sein sollte, um den Menschen in seiner Arbeits- und Lebenswelt zu unterstützen.
Für meine berufliche Entwicklung ist die Neugierde auf neue Technologien und deren Anwendungsmöglichkeiten eine treibende Kraft. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen neue IT-Technologien frühzeitig aufzugreifen, aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, und deren Potentiale zu erforschen, hat jeden Tag zu neuen spannenden Aufgaben, und im Ergebnis dann zu innovativen Lösungen geführt.
Die Informatik ist eine Schüsseltechnologie für Bereiche wie z.B. Medizin, Biologie, Ingenieurswesen und Medienwirtschaft.
Anette Weisbecker: Der Prozentsatz der Informatikstudentinnen ist nach wie vor gering und hat sich in den vergangenen Jahren nicht signifikant erhöht. Zum einen fehlt noch immer die Darstellung der Vielfältigkeit des Informatikstudiums und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen beruflichen Möglichkeiten. Zum anderen fehlen möglicherweise auch Vorbilder, die die Attraktivität der Informatik und der damit verbundenen vielfältigen Berufswege aufzeigen.
Es ist auch wichtig aufzuzeigen, dass die Informatik als Schlüsseltechnologie für immer mehr Bereiche wie z.B. Medizin, Biologie, Ingenieurswesen und Medienwirtschaft an Bedeutung gewinnt und vielfältige Möglichkeiten für interdisziplinäres Arbeiten und Forschen bietet.
L. F. i. M.-B.: Gibt es ein ultimatives Ziel, das Sie persönlich mit Ihrer Arbeit am IAO erreichen möchten?
Anette Weisbecker: Weiter daran zu forschen, dass Technik so gestaltet werden kann, dass die Menschen sie eigenverantwortlich mit viel Freude einfach und intuitiv im Berufs- und Privatleben nutzen.
Infos zu Prof. Dr. Anette Weisbecker:
Anette Weisbecker ist Autorin von mehr als 270 wissenschaftlichen und technischen Veröffentlichungen und seit 2013 stellvertretende Institutsleiterin am Fraunhofer IAO und am IAT der Universität Stuttgart. Ihre Karriere am IAO begann in den späten 1980er-Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin. 2002 schloss die Informatikerin mit der öffentlichen Antrittsvorlesung „Software-Management: Prozesse und Techniken für die Softwareproduktion“ ihre Habilitation ab. Seit 2011 ist sie außerdem außerplanmäßige Professorin an der Universität Stuttgart.
Foto: Anette Weisbecker, IAO
Mehr zum IAO hier.
- Lucia Parbel, Studentin der Agrarwissenschaft und Aktivistin bei Fridays for Future Stuttgart
- Dr. Gisela Schütz, Direktorin am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart und Leiterin der Abteilung „Moderne Magnetische Systeme“
- Maria Stepanov und Franziska Schneider, Mitwirkende am Corona Protection Point der Ameria AG
- Beate Schöneck, Hygienefachkraft am Klinikum Stuttgart
- Barbara Müller, Arbeitsgruppenleiterin im Department für Infektiologie und Virologie am Universitätsklinikum Heidelberg
- Mariola Fotin-Mleczek, Chief Technology Officer der CureVac AG, Biologin und Expertin für Immunologie